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Was uns eine Trinkschokolade über die Wirtschaftskrise lehren kann

von Professor Christoph Stölzl

Für ein "Arbeitsfrühstück" war es schon zu spät, die Kellner räumten bereits um für das Mittagsessen. Aber in der Ecke ließ uns der Manager einen Tisch frei, wo wir unsere Papiere ausbreiten konnten. An der Wand hinter unserem Tisch hing das Bild einer Kuh, die ihr Maul ins Gras versenkte.

Daneben hingen andere Fotos, die Menschen in den Kostümen des Jahres 1900 zeigten. Auf Pferdewagen fuhren sie große Milchkannen herum. Unser Restaurant befand sich genau dort, wo vor 1914 die Zentrale des Berliner Milch-Imperiums Bolle gewesen war. Bolle war der große Wachstumsgewinner der wilhelminischen Zeit: Berlin wuchs von einer auf drei Millionen Einwohner. Die brauchten Milch und bekamen sie in Bolles bimmelnden Milchwägen.

Wir machten akademisches Business as usual: Ein Symposium wird vorbereitet. Wie stimmt man die Eröffnungsreden aufeinander ab? Aus Bonn ist der Sozialforscher Meinhard Miegel angereist, seit langer Zeit als scharfer Kritiker der Wachstumsgesellschaft bekannt. Er sieht so aus und er spricht auch wie ein Chefarzt bei der Visite, der seinen Patienten und Assistenten mit äußerster Ruhe und größter Präzision die Kurven und Zahlen auf dem Monitor am Krankenbett erläutert. Ein weißer Kittel und ein Stethoskop würden ihm gut stehen.

Die Kellnerin kommt und fragt nach unseren Wünschen. Ich bestelle eine Trinkschokolade. Mit oder ohne Sahne? Mein Mund - nach Sigmund Freud Sprachrohr meines "Ich" - sagt "ohne", obwohl mein "Es" gemurmelt hatte "mit!". Aber das "Über-Ich", das Thema unseres Gesprächs, die Heilsamkeit schrumpfenden materiellen Konsums, hat mich gezwungen, auf das geschmacksverfeinernde Milchprodukt zu verzichten. Und das in den Gemäuern, in denen einst Carl Bolle geherrscht hatte!

Miegels Botschaft: Wir haben das Wohl und Wehe all unserer wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Systeme an den Faden der ökonomischen Prosperität gehängt, die wir mit "Wachstum" identifizieren. Alle Probleme glaubten wir durch explosionsartiges Wachstum lösen zu können. Wir konnten uns nichts anderes mehr vorstellen: Das globale Wirtschaftswachstum der letzten 25 Jahre lag im Schnitt bei 5,5 Prozent in den vergangenen 25 Jahren.

Aber jetzt ist die Periode permanenter Expansion zu Ende. Ein langer materieller Abschwung kommt. Werden wir immaterielle Kompensationen finden?

Die Kellnerin kommt noch einmal. Das "Über-Ich" sagt wieder "Nein". Aber diesmal siegt das "Es": Schoko mit Sahne! Materielles Glück in klitzekleinen Dosen muss auch im gesellschaftlichen Wandel erlaubt sein.

Bis morgen
Ihr
Christoph Stölzl

Berliner Morgenpost, 10. Januar 2009